von Marianne Frick, geb. Behrens
(Anmerkung: Bierde liegt in der Allerniederung zwischen Böhme und Ahlden/Hodenhagen)
Am 9. Februar habe ich Geburtstag. Ich war 15 Jahre alt geworden und wollte die ländliche Hauswirtschaft erlernen. Unsere Mutter und Tante Anna hatten vereinbart, 4 Wochen auf Tante Annas Lehrhof zu helfen. Vor allen Dingen sollte ich lernen, Flachs zu spinnen, das Weben von Leinen auf dem großen Webstuhl und das Hühnerschlachten, Rupfen und Ausnehmen der Innereien.
Annemarie Lüdemann aus Lauenbrück war zu dieser Zeit als alleiniger Lehrling bei Tante Anna tätig. Annemarie half beim Kartoffel sortieren. Anschließend brachte Onkel Fritz die Waage auf die Diele. Alle Bewohner des Hauses wurden gewogen. Onkel Fritz hatte das geringste Gewicht. Es waren nur 116 Pfd. Die Abende waren immer gemütlich. Onkel Willy und Onkel Fritz saßen im Sofa. Sie stopften ihre Strümpfe und wussten mancherlei von früher zu erzählen. Ich fühlte mich richtig geborgen. Die Türen und Fenster waren fest verrammelt, weil noch Überfälle von Polen und Russen zu befürchten waren. An einem Freitag brachte Annemarie, nachdem sie alle Schlafzimmer gesäubert hatte, die Schuhe wieder in das Schuhbord auf die Diele. Am anderen Morgen die bittere Überraschung: die Polen waren eingebrochen und hatten auch die Schuhe mitgenommen.
Eines Tages kam Marianne Bunke aus Bierde für ein paar Tage zu Besuch. Sie war der erste Lehrling bei Tante Anna gewesen. Lehrerin einer Landfrauenschule war ihr Berufswunsch gewesen. Kurz vor der letzten Prüfung war der Krieg zu Ende. Da die Entnazifizierung noch nicht erfolgt war, entschloss sie sich, Diakonisse zu werden und nach Bethel zu gehen. Anfang Mai wollte sie ihr Elternhaus verlassen. Ihr Vater war lange Jahre in den Rotenburger Anstalten als Lehrer tätig gewesen. Er hatte die Diakonischen Brüder unterrichtet. Nachdem 1943 die Organisation Todt die Anstalten und den Kalandshof übernahm, konnte er geldlich nicht anders mit der Anstalt auseinander kommen, als sich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen zu lassen. Er war auf Lebenszeit angestellt gewesen und war erst Anfang 50. Sein Hof – 120 Morgen – war noch verpachtet. Das Bauernhaus, 200 Jahre alt, war jetzt für 2 Familien sehr beengt. Nach dem Krieg wohnte Familie Bunke alleine in dem Hause. Er betrieb die Imkerei, hatte Schweine, ein paar Schafe und Hühner und eine Kuh. Marianne Bunke fragte mich, ob ich die Stelle als Haustochter einnehmen wolle. Ich war voll begeistert. Es wurden alle Absprachen mit Marianne Bunke getroffen, um Anfang Mai 1946 in Bierde anzufangen. Meine Freundinnen konnten es gar nicht verstehen, so weit weg, und dann das alte Haus. Kein bischen komfortabel, kein fließend Wasser, Zementfußboden in der Küche, eine alte Schwengelpumpe, darunter ein gemauerter Ausguss. Ihnen blieb die Spucke weg, wie sie zu sagen pflegten. Ich ließ mich nicht beirren, obwohl ich die übrige Familie Bunke nur vom Erzählen kannte.
An einem Maitag brachten meine Eltern mich dorthin. Wir fuhren recht früh los in Richtung Brockel. Der Nebel war gerade aufgestiegen. Im Lohmoor konnten wir eine Birkhahnbalz beobachten. Ich habe bis heute so etwas noch nicht wieder gesehen.
Der Empfang in Bierde war herzlich. Aber schon nach einigen Tagen stellte sich bei mir eine Krankheit ein. Frau Bunke glaubte, ich hätte Heimweh. Aber dann musste doch ein Arzt aus Rethem kommen, der eine Diphtherie bei mir feststellte. Von meinem Bett aus konnte ich den Kastanienbaum im Garten beobachten. Am 10. Mai stand er in voller Blüte. Es war ein riesiger Baum, mir wurde so richtig bewusst, wie schön ein Kastanienbaum sein kann. Meine Krankheit wurde Gott sei Dank nicht so schlimm, da ich im Herbst eine Schutzimpfung erhalten hatte. Ende Mai sollte die Hochzeit von Erika Bunke mit Wolfgang Müller aus Braunschweig stattfinden. Die Vorbereitungen zu dem Fest mussten getroffen werden, das Haus desinfiziert, ich aber noch nicht genesen. Darum musste ich für ein paar Wochen wieder nach Hause. Anfang Juni brachten meine Eltern mich wieder zurück. Es begann für mich eine wunderschöne Zeit. Ich erlernte den Haushalt. Ilse, die älteste Tochter, war Lehrerin der Hauswirtschaft. Frau Bunke hatte die höhere Töchterschule in Helmstedt besucht. Sie kam aus einer Kaufmannsfamilie in Winsen/Aller. Die Mahlzeiten wurden mit Sorgfalt und Liebe bereitet. Auf gute Tischmanieren wurde sehr viel Wert gelegt. Im Sommer aßen wir meistens draußen unter dem Haselnußbaum. Am Nachmittag hatte ich eine Stunde Klavierunterricht. Beim Nachmittagskaffee fanden wir uns wieder unter dem Haselnußbaum ein. Häufig waren dann schon Gäste da. Einmal in der Woche fanden Leseabende statt. Herr und Frau von Randow, Studienrat Engelhart mit Frau und Fräulein Rutta waren ständig anwesend. Herr von Randow studierte in Hamburg Rechtswissenschaft. Seine Frau war eine interessante Person, sie war gerade von einer TBC-Krankheit genesen, ihre beiden Kinder, Ingrid und Ulrich Fritz, inzwischen 3 und 1 Jahr alt, waren von Ilse Bunke während ihres Sanatoriumaufenthaltes an der Nordsee versorgt worden. Sie war eine geborene von Hube. Ihr Vater, als Flugzeugführer mit den höchsten Tapferkeitsauszeichnungen versehen, war 1944 abgestürzt. Der Bruder Ulrich als 19-jähriger Leutnant gefallen, die Mutter inzwischen verstorben, litt Frau v. Randow doch noch sehr unter dem Verlust ihrer pommerschen Heimat. Sie führte sehr anregende Gespräche mit Herrn Bunke, hatte aber große Schwierigkeiten, mit ihrem Haushalt und den Kindern fertig zu werden. Die wohl eigenwilligste Frau war Frl. Rutta, sehr lebendig, aus der Kirche ausgetreten. Als eine Anhängerin der NSDAP hatte sie die Aufgabe gehabt, während des Krieges die gesamte Bekleidung der BDM-Mädchen in Schweden zu verwalten. Sie war sehr belesen, da es aber kaum noch Bücher gab, fing sie an, die Bibel zu lesen. Sie war so fasziniert, dass sie nicht wieder davon loskam. Herr Bunke, ein gläubiger Christ- seine Schwester ist mit einem Missionar in Johannesburg verheiratet- fand auf ihre vielfältigen Fragen immer eine Antwort. Ihre Schwester, das kleine Frl. Rutta, stand in ihrem Schatten. Sie führte für das große Frl. Rutta den Haushalt. Ich musste jede Woche an einem Nachmittag nach Böhme zur Berufsschule. Herr Weite, ein ältere Lehrer mit weißen Haaren, war ebenfalls als Flüchtling in den Westen gekommen. Ich genoss eine bevorzugte Stellung dort in dem Unterricht. Weites kamen häufig zu Besuch. Ilse hat für Herrn und Frau Weite öfter mal einen Kuchen gebacken. Frau Weite brachte als Zutaten Mehl und Zucker, die sie auf Lebensmittelmarken gekauft hatte. Ilse spendete noch ein paar Eier, Fett war knapp. Ilse wusste immer Rat, sie tat etwas mehr Backpulver in den Teig, so dass er schön locker wurde. Im Sommer habe ich die Kuh auf der Weide gemolken. In Bierde gab es Marschweiden, an der Aller gelegen. Sie waren von Wällen umgeben, die mit Busch bewachsen waren. Direkt quer durch die Weide führte eine Hochspannungsleitung, die immer sehr laut summte. Im Sommer bekam ich meinen ersten Urlaub. Frau Bunke begleitete mich. Tags zuvor waren wir durch die Wiesen nach Eilte gegangen. Wir besprachen mit dem Fuhrmann die Überfahrt. Er musste schon rechtzeitig uns von der gegenüberliegenden Seite abholen. Eilte liegt direkt an der Aller. In aller Frühe brachte er die ersten Leute, die zum Melken auf die andere Seite mussten, hinüber. Auf der Rückfahrt nahm er uns mit. Frau Bunke machte mich auf ein junges Mädchen aufmerksam; sie hatte blonde Haare, die ordentlich gepflegt und gekämmt waren. Wir fuhren mit dem Zug von Eilte nach Verden. Hier gab es eine lange Wartezeit, bis wir endlich nach Rotenburg weiterfahren konnten. Frau Bunke wollte alte Freunde, Brüder der Rotenburger Anstalten und deren Familien in Rotenburg besuchen. Sie begleitete mich noch zum Zug in Richtung Scheeßel. Nun hieß es ‚Abschied nehmen‘. Ich musste Frau Bunke auf jede Wange ein Küsschen geben. Für mich sehr aufregend, da wir uns zu Hause nur mit Handschlag verabschiedeten.
In Westervesede fand in Hanschens Saal eine große Veranstaltung statt. Natürlich fanden wir uns schon am Nachmittag ein. Ich war doch sehr überrascht, Annegret saß schon mit ihrem Freund Klaus Ehrhorn am Tisch. Ich war in Bierde überhaupt nicht ausgegangen, Annegret dagegen jedes Wochenende zum Tanzen gewesen. Sie hatte schon eine Tanzschule besucht und erzählte mir, dass sie mit dem Tanzlehrer vorgetanzt hätte. War ich doch rückständig.
Die Urlaubszeit verlief im Fluge, ich freute mich, wieder nach Bierde fahren zu dürfen. Im Gepäck waren Mehl und Kartoffelmehl, alles selbst hergestellt, dazu buntbedrucktes Leinen. Ilse wollte mir ein paar Dirndlkleider nähen. Es wurde Herbst. Ich half Fritz Krüger, der auch so alt war wie ich, bei dem Holz ran karren. Ilse hatte von einem Bekannten aus dem Rheinland einige Zentner Brikett bekommen. Er war bei der Polizei. Den Hund, unsere Asta, hatte er angelernt. Der ganze Hofraum war mit einem Stakettzaun umgeben. Wenn der Hund auf dem Hof herumlief, wagte sich niemand zu uns. Nur hinten durch den Garten konnte man ungehindert an das Haus kommen. Mitte November kam der Winter mit großer Heftigkeit. Wir hatten mehr als 18 Grad minus. Die Kälte dauerte bis Mitte Dezember. Ich wollte zu Weihnachten nach Hause fahren. Die Kuh hatte bei der Kälte so wenig Milch, alles fror auf der Diele ein. Wir machten auf dem Herd das Wasser heiß, um die Steckrüben, das Futter für die Kuh, aufzutauen. Für die Bewohner an der Aller war es selbstverständlich, dass sie über den zugefrorenen Fluss gingen. Nun waren aber 3 Nächte keine 15 Grad unter Null. Es war Treibeis und somit Eisschollen. Natürlich hatte ich Angst, die Aller zu überqueren. So fuhr ich einen Tag vor Heiligabend morgens mit dem Zug von Böhme nach Walsrode, Fritz Krüger brachte mich zur 3km entfernten Bahn. Auf den Handwagen kam mein Koffer und Handgepäck. Meine Weihnachtsgeschenke waren auch im Gepäck: eine Sammeltasse, ein Buch, eine silberne Brosche in Filigranarbeit und noch einige Kleinigkeiten. In Walsrode wieder lange Wartezeit, bis ich Anschluss nach Visselhövede hatte. Von Visselhövede fuhr der Zug einige Kilometer, plötzlich standen wir auf freier Strecke. Die Lokomotive war kaputt. Es musste erst eine andere herbeigeschafft werden. Einige Fahrgäste stiegen aus und gingen zu Fuß zum nächsten Ort. Ich musste bleiben. Im Zug war es kalt. Es wurde immer später, Stunden waren vergangen. Es wurde dunkel. Kam ich überhaupt noch bis zur Sperrstunde nach Rotenburg? Niemand wusste wo ich war, bis endlich abends nach 10 Uhr eine Lokomotive da war. Um 11 Uhr fuhren wir in Rotenburg ein. 3 Fahrgäste stiegen aus. Sie waren auch gleich in der Dunkelheit verschwunden. Es war Stromsperre, kein Straßenlicht. In keinem Haus brannte Licht. Ich hastete die Bahnhofstraße entlang. Im Hause von Deylen neben dem Amtsgericht sah ich oben im Hause eine Kerze brennen. Ich lief weiter im Dunkeln die Große Straße entlang. Im Rotenburger Hof sah ich einen Lichtschimmer durchs Fenster. Auf der Theke stand eine Kerze. Der Ober und der Geschäftsführer waren zu sehen. Ich klopfte an das Fenster. Es waren Doppelfenster und niemand hörte etwas. Ich trommelte an das Fenster. Nun wurden sie aufmerksam und öffneten die Tür. Vor Freude konnte ich kein Wort herausbringen. Nachdem ich mich beruhigt hatte, haben sie in Westervesede angerufen, es war schon nach 12.30 Uhr geworden. Ich durfte im Hotel übernachten und bekam ein schönes Zimmer mit weiß bezogenem Bett. Ich habe geschlafen bis zum anderen Morgen 10 Uhr. Es war Heiligabend. Vater wartete schon im Gastzimmer als ich aufstand. Er hatte sicher alles mit Lebensmitteln und Eier, wie es damals üblich war, beglichen. Ich habe es nie erfahren. Vater war schon am Vortage in Verden auf dem Bahnhof gewesen. Ich sollte in der Kälte nicht so lange warten. Es wurde ja nirgends geheizt. Man hatte ihm nur erzählt, es wäre ein junges Mädchen ausgestiegen, die mit einem Herrn weggegangen sei. Auch fand er mich nicht in Rotenburg auf dem Bahnhof, da ich ja nicht von Verden mit dem Zug dort angekommen war. Telefonieren war auch sehr umständlich. Bunkes hatten kein Telefon. Von Wulpern, den Nachbarn, ging es auch nicht so einfach, man musste ja stundenlang warten, bis eine Fernverbindung hergestellt war. Und nach der Polizeistunde wurden auch keine Ferngespräche mehr verbunden. Meine Mutter hat sehr um mich gebangt. Nachdem nachts das Telefon zu Hause klingelte glaubte sie, man hätte mich tot aufgefunden.
Die Tage zu Hause habe ich richtig genossen. Heiligabend gab es kaum Geschenke, weil es einfach nichts zu kaufen gab. Christbaumschmuck und Kerzen waren rar. Wir jungen Leute waren unbeschwert und freuten uns, dass wir zum Tanzen gehen konnten. Kurz nach Neujahr musste ich zurück nach Bierde. Der Frost setzte ein. Es schneite und fror. Der Schnee vor Bunkes Haustür lag so hoch, dass ich nicht rüber schauen konnte. Nur ein schmaler Gang bis zur Straße war frei geschaufelt. In der warmen Stube war es aber gemütlich. Fast das ganze Leben fand jetzt nur in dem einen Zimmer statt. In der Küche fror die Pumpe ein. Die Kartoffel wärmten wir am Schornstein auf. An manchen Tagen schmeckten sie süßlich, da sie schon zu viel Kälte abbekommen hatten. In dem Schlafzimmer, Ilse und ich waren jetzt in einem Zimmer untergebracht, glänzten die Wände. Der Frost war sehr schnell durch die dünnen Fachwerkwände gedrungen. Herr Bunke wusch sich noch immer bei offenem Fenster in seinem Schlafzimmer. Der Winter setzte immer wieder nach. Am 13. März, mein Bruder hatte Geburtstag, schneite es noch den ganzen Tag. Dann aber, an den folgenden Tagen, setzte ganz, ganz allmählich Tauwetter ein. Es begann die große Schneeschmelze. Man hatte noch die großen Überschwemmungen vom letzten Jahr in Erinnerung. Bei Helbergs hatte Adele mir gezeigt, dass in dem Häuslingshaus das Wasser 80 cm hoch gestanden hatte. Es war noch an den Wänden zu sehen. Neue Tapeten konnten ja nicht gekauft werden, weil es keine gab. Im Dorf wurde damit begonnen, Wälle in den Straßen und Wegen, die zur Aller lagen, aufzuschütten. Irgendwann würde der Deich wieder brechen, dort, wo die Leine in die Aller floss. Die Schneeschmelze im Harz brachte riesige Wassermassen. Der Bäcker musste Brot im Voraus backen. Jeder deckte sich ein, soweit die Brotmarken reichten. Das Maisbrot war ein wenig klitschig und schmeckte etwas süßlich. Trotzdem waren wir froh, dass wir für mindestens eine Woche Vorrat hatten. Dann die Angst davor, tagelang wegen der Wassermassen nicht aus dem Haus zu kommen oder Wasser in den Viehställen zu haben. Das Vieh wurde vorsichtshalber in Ställe gebracht, die etwas höher lagen. Aber Gott sei Dank brauchten wir dann nur einen Tag lang im Hause zu bleiben, der Schnee taute nur allmählich und die ganz große Überschwemmung blieb aus. Ich wurde von Adele und ihrem Bruder Friedrich eingeladen, eine Mondscheinpartie mit dem Kahn auf den überschwemmten Wiesen und Feldern zu machen. Der Kahn war am Schweinestall festgemacht. Wir öffneten die Schweinestalltür, die zur Wiesenseite lag, und konnten ungehindert in das Boot einsteigen. Friedrich steuerte das Boot mit einer langen Stange. Es war Vollmondnacht. An einigen Stellen ragten die oberen Pfahlenden und Stacheldraht aus dem Wasser. Angeschwemmtes Schilf hing an den Drähten. Adele fand es sehr romantisch. Ich hatte Angst, und die Romantik wurde für mich unwirklich. Mindestens einmal in der Woche waren wir abends zu Gast bei Helbergs. Onkel Julius war ein lieber, gütiger Mensch. Tante Dora, eine Scchwester von Herrn Bunke, hatte trotz ihrer vielen Arbeit immer Zeit, schöne Handarbeiten herzustellen. An einem Winterabend hatte Herr Bunke zu einem Herrenabend eingeladen. Die geladenen Gäste waren nur Pfeifenraucher oder solche, die es mal probieren wollten. Zuerst wurde die Pfeifensammlung bestaunt. Sie hingen an einem besonderen Bord. Jeder nahm sich eine Pfeife, nur Herr Bunke behielt die lange Pfeife für sich. Zuerst wurde ordentlich philosophiert, die Pfeifen dabei gestopft. Jeder brachte seinen eigenen Tabak mit. Die Pfeife von Herrn Bunke war so lang, dass sie bis zum Boden reichte, wenn er in seinem großen Ohrensessel saß. Sie war wunderschön verziert, mit Schnitzereien und schönen Kordeln und Quasten. Wir Frauen falteten in der Zwischenzeit schon mehrere Fidibusse. Ich durfte zu Herrn Bunkes Füßen sitzen, um ihm beim Anzünden behilflich zu sein. Er konnte ja nicht bis unten hinreichen, um die Pfeife anzuzünden. Er musste kräftig dran ziehen, um den Pfeifenkanal zu erwärmen. Immer wieder holte ich neues Feuer mit dem Fidibus aus dem Ofen. Die Qualität des Tabaks war auch nicht mehr so gut. Nachdem sie dann endlich brannte, reichte es bis tief in die Nacht hinein. Es wurde ein humorvoller Abend. Herr Bunke zitierte häufig Wilhelm Busch und sonstige vergnügliche Literatur.
In Bierde war eine kleine Kirche, die von der Kirchengemeinde Ahlden im Wechsel mit dem Küster betreut wurde. Herr Bunke hatte das Amt des Küsters schon längere Zeit inne. Er hielt einen Lesegottesdienst, die Predigt wurde von der Landeskirche zugesandt. Herr Bunke hielt den Lesegottesdienst mit großer Leidenschaft. Er durfte die Kanzel nicht betreten, sondern stand an einem Pult. Johann-Heinrich spielte die Orgel. Tage vorher ging er abends mit Ilse zum üben. Ilse hatte eine wunderbare Stimme. Ich musste schon am Sonnabend alle Schuhe putzen. Wir hatten extra eine Schuhputzkammer, in der es immer so muffig roch. Die Schuhe für Herrn Bunke mussten besonders poliert werden. Am Sonntagmorgen wurde früher aufgestanden. Alle Türen durften nur leise geöffnet werden. Es wurde im Flüsterton gesprochen. Das Frühstück fand nur kurz statt. Herr Bunke bereitete sich durch Lesen und Gebete auf die Predigt vor. Er ging schon fast eine halbe Stunde vorher alleine zur Kirche. Wir drei Frauen gingen gemeinsam und saßen in der ersten Bankreihe. Für Frau Bunke war dieser Tag immer etwas Besonderes. Das Mittagsmahl war schon am Tag vorher bereitet, es wurde nur noch erwärmt. Die Abendmahlsgeräte bewahrte Frau Bunke im Esszimmerschrank auf. Ich sollte den Schrank auswischen, war aber neugierig und nahm mir eine Oblate aus der Dose. Sie blieb mir am Gaumen kleben. Ich bekam ein schlechtes Gewissen; sollte das auch eine Sünde sein?
Bunkes bekamen auch noch Einquartierung. Eine junge Flüchtlingsfrau – Gerta Schöppel – mit ihrer kleinen Tochter. Wir räumten eine Kammer aus. Die eisernen Bettgestelle waren so fest ineinander verhakt, dass wir am Abend auf Johann-Heinrichs Hilfe angewiesen waren. Für ihn war es eine Kleinigkeit. Ilse bot ihm als Dank von uns beiden einen Kuss an. Ich wurde über beide Ohren rot, da ich ja alles wörtlich nahm. Aber ihm war eine Tafel Schokolade lieber, ich war gerettet, es wäre mir doch sehr peinlich gewesen, einem jungen Mann einen Kuss zu geben. Schokolade konnte man sowieso nicht kaufen und es blieb bei einem ‚Danke schön‘. Die schöne Zeit in Bierde ging dem Ende entgegen. Ende Mai sollte Annegret meine Stelle antreten. Meine Eltern brachten sie mit dem Auto und ich fuhr wieder nach Hause. Am 13. Juni 1947 machte ich meine Hausarbeitsprüfung. Ich bestand alle Fächer mit guten Noten.
Zu meiner Verlobung schrieb Frau Bunke mir einen langen Brief – unter anderem:
Bierde, 9.1.1951
Du unsere liebe kleine Marianne!
Als ich am Donnerstag von Walsrode nach Hause kam, zeigte mir unser Vater als große Überraschung Deine Verlobungskarte. Wir haben uns beide sehr darüber gefreut, und wir wünschen Dir von Herzen, dass Du einen recht lieben Mann bekommen mögest, und dass Du an seiner Seite eine recht glückliche Zukunft haben mögest. Du hast jetzt eine so gute Ausbildung genossen, da wirst Du gewiss eine tüchtige Hausfrau werden. Was für ein kleines Küklein warst Du doch, als Du bei uns so mutig und vergnügt Dein Lehrjahr begannst! Du warst immer so lieb und fleißig, dass ich Dich so lieb hatte, als wärest Du mein eigenes Kind – und mein Mann auch.
Herr und Frau Bunke sind in den siebziger Jahren verstorben.