Es dunkelt schon in der Heide …
Erinnerungen an die frühe Kindheit besitzen wir alle. Manches hat man vergessen, aber bestimmte Ereignisse sind haften geblieben und tauchen bei Gelegenheit wieder aus der Tiefe auf. Wenn ich mit meinem Mann haute eine Feldrundfahrt mach und wir an unserer früheren Melkweide vorbeikommen, denke ich an meinen Großvater und unsere gemeinsame Fahrten nach „Achter Wischen“.
Es muss zu Beginn der fünfziger Jahre gewesen sein, ich war fünf oder sechs Jahre alt. Damals standen auf den größeren Höfen nicht mehr als 10 oder 12 Kühe im Stall. Im Frühjahr und Herbst trieb man sie morgens auf die Weide und holte sie abends zum Melken wieder nach Hause. Im Sommer blieben die Tiere dann ganz draußen und man fuhr zum Melken hin. Nach dem Kaffeetrinken – so gegen 16.00 Uhr – spannte mein Opa die beiden Pferde vor dem „Kletschwagen“ (die richtige Bezeichnung ist wohl Kaleschwagen). Vorne der Kutschbock und dahinter eine kleine Ladefläche, worauf die Kannen und Eimer, das Melksieb samt sauberem Tuch und ein kleiner Sack mit Kuhschrot gepackt wurden. Wir stiegen auf und dann ging es los: zuerst die Brückenstraße entlang, damals noch eine kleine gepflasterter Fahrbahn mit einem breiten Sandweg daneben. Autos fuhren kaum – aber viele Gespanne: Landwirte, die von der Feldarbeit nach Hause kamen. Manchmal hielt Opa kurz an, um mit einem Bekannten, der uns entgegenkam, kur zu klönen, früher hatte nämlich dafür Zeit. Es ging eigentlich immer um die gleichen Themen: das Wetter; wie steht das Getreide; wie wird wohl die Ernte werden. Hinter der weißen Brücke bogen wir rechts ab, in einen ziemlich huckeligen Sandweg. Jeden Abend kam dann das gleiche Ritual, auf das ich immer schon wartete. Opa hielt an und gab mit die Zügel, holte ein Zigarre aus seiner Jackentasche, steckte sie an und meinte: „Nu kannst du beten linken“. Für so ein kleines Mädchen natürlich ein Ereignis, so eine Aufgabe zu übernehmen – und das man das überhaupt durfte; man kam sich sehr wichtig vor. Opa paffte, ich hatte die Zügel in der Hand und spätestens nach 50 Metern begann er zu singen. Mein Großvater liebte Musik, spielte Geige und besaß eine sehr schöne Stimme. Jeden Abend das gleiche Lied: „Es dunkelt schon in der Heide, nach Hause lass uns gehen, wir haben das Korn geschnitten mit unserem blanken Schwert.“ Zwischendurch paffte er an seiner Zigarre und hatte alle Verse durch, wenn wir an der Weide ankamen. Ich kletterte vom Bock, öffnete das Weidetor und schloss es wieder, wenn er in Richtung Schuppen durchgefahren war. Dort lud er ab, während ich Wasser pumpte. Zwei große Zementbottiche mussten voll, ziemlich schwere Arbeit für mich – aber es machte Spaß. Die Kühe kamen angetrottet, um erst einmal zu saufen. Die Tiere benutzten immer den gleichen Weg, auf der Weide konnte man einen richtigen getrampelten Pfad erkennen. Inzwischen waren auch meine Mutter und unser junges Mädchen, damals hieß es noch Magd mit dem Fahrrad angekommen. Opa hatte die Kannen, Eimer und das Melksieb abgeladen. Meine Aufgabe war es dann die Kühe zum Schuppen zu treiben und Opa band sie fest. War kein Problem, denn in den Trog hatte er Kuhschrot geschüttet, also standen die Tiere ruhig da. Mama hatte inzwischen das saubere Tuch mit Wäscheklammern am Sieb befestigt, auf eine Kanne gesetzt. Die Frauen begannen zu melken; mit der Hand natürlich. Melkmaschinen kamen erst Jahre später. Das Wasser in den Bottichen war fast ausgesoffen – aber jetzt war Opa dran mit Pumpen. Für mich gab es nichts mehr zu tun; aber langweilig wurde mir nie. Es gab soviel zu sehen. Überall im Schuppen hatten Schwalben ihre Nester gebaut; manchmal so niedrig, dass ich hineinschauen konnte, wenn ich mich auf einem Melkschemel stellte.
Ich erinner mich, dass ich einmal in einem Nest nur einen ganz dicken, kleinen Vogel sah und Opa mir erklärte, dass ein Kuckuck sein Ei in das Schwalbennest gelegt hätte. Weil dieser Vogel so gefräßig sei, hätten die Schwalbenjungen nue genug Futter bekommen und wären deshalb verendet. Ich fand das nicht gut; aber es hieß dann nur: „So ist das nun einmal in der Natur“. – Und dann Pilze suchen. Auf der Weide gab es nach einem warmen Sommerregen immer Chapignons. Opa erklärte mir genau, wie sie aussehen und passte auf, dass keine Boviste in meinem Eimer landeten. An solchen Tagen briet Oma dann abends zu den Bratkartoffeln auch die frischen Pilze.
Wenn das Melken beendet war, band Opa die Kühe wieder los und wieder alles auf den Wage. Die Frauen waren schon wieder auf dem Weg nach Hause, wenn wir losfuhren. Aber zurück durfte ich nicht lenken; Opa meinte dann immer: „De Wogen is nu to schwor“. Zigarre paffen war jetzt für ihn auch nicht drin; aber singen konnte er trotzdem.
Liselotte Semmelroggen