Mein Vater musste die Brücke, die über den Krüppelbach am Ortseingang von Westervesede führte , bewachen. Hier war eine Panzersperre aufgebaut. Vater hatte an dieser Brücke acht Tage lang Straf-Nachtwache zu halten, weil er die sinnlos erscheinenden Nachtwachen eigenmächtig aufgelöst hatte.
Beim Einrücken der Engländer sollte die Brücke gesprengt werden.
Täglich waren bei uns deutsche Soldaten einquartiert. Mein Vater fragte in den letzten Kriegstagen einen SS-Mann, ob das Dorf denn auch verteidigt werden würde. Er wollte es wissen, damit er im Notfall mit uns Kindern den Hof verlassen und ins Moor fliehen könnte. Es entstand eine bedrohliche Situation: Ich stand neben Vater, als ein heftiges Streitgespräch begann und Vater mit deutlicher Anstrengung sagte: „Auf meinem Hof fällt kein Schuss!“ Daraufhin zog der SS-Mann seine Pistole und hielt sie meinem Vater direkt vor die Brust. Vater sagte: „Ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben,“ und drehte sich ruckartig um. Ich lief aus Angst weg. Ein ältere Soldat, einer von den Landesschützen, warnte meinen Vater, weil der SS-Mann erst vor wenigen Tagen einen Zivilisten, einen Schuster in der Nähe von Bomlitz, erschossen hatte. Am nächsten Morgen, bei einer Begegnung mit dem SS-Mann, sagte dieser: „Was meinen sie, wenn ich sie gestern niedergeknallt hätte?“
Ständig kreisten Tiefflieger über das Dorf und knatterten mit ihren Bordwaffen. Die Soldaten, es waren größtenteils Hitlerjungen, gingen unter den Eichen in Deckung. Sie rückten gegen Abend in Richtung Veerse / Bartelsdorf ab.
Am nächsten Morgen gegen 11 Uhr kamen die englischen Panzer in unser Dorf gefahren. Vorne auf dem ersten Panzer saßen 2 Einwohner aus Westervesede. Mit einer weißen Fahne waren sie den Engländern entgegengegangen und hatten ihnen erklärt, dass keine deutschen Truppen mehr im Ort waren. Einige Hitlerjungen, die mit der Panzerfaust die Brücke verteidigen und den Sprengstoff zünden wollten, hatten sie weggeschickt.
Die Russen und Polen, die auf den Höfen gearbeitet hatten, wollten die Panzer erklettern, aber die Soldaten ließen das nicht zu. Sie zogen laut jolend durch die Straßen. An jedem Haus musste ein Zettel mit Namen, Beruf und Geburtsdatum der einzelnen Hausbewohner angebracht werden. Bei uns im Garten wurden Löcher gegraben und Geräte aufgebaut. Sie zeigten in Richtung Rotenburg. Überall waren Soldaten die mit langen Stangen das Erdreich durchsuchten. Mir war das unheimlich und ich lief schnell nach Hause. Als ich die Flurtür öffnete, bekam ich einen gehörigen Schreck. Neben meinem Vater standen Offiziere und neun englische Soldaten mit Maschinengewehren und Pistolen im Anschlag, um auf Kommando abschießen zu können. Mir gegenüber an der Wand standen mehrere Engländer und ein Flame, der englisch sprechen konnte. Dieser Belgier war deutsch gesonnen und vor anrückenden Alliierten mit Gleichgesinnten nach Deutschland geflohen. Der Flame war häufiger Gast in unserem Hause und ihm ist es zu verdanken, dass unser Vater bleiben durfte, während die beiden Offiziere abgeführt wurden. Sie sind in ein Lager nach Belgien gebracht worden und erst nach Jahren aus der Internierung entlassen worden. Unsere Familie und auch die Flüchtlingsfamilie mussten das Haus räumen und wir kamen bei Nachbarn unter. Die Scheune wurde Proviantlager. Nach einer Woche genehmigte man uns die Rückkehr auf den Hof. Kurze Zeit später wurde Vater von der Militärregierung zum Bürgermeister der Gemeinde Westervesede ernannt. Gegen Ende Mai mussten die Flamen den Saal von Grobrügge räumen. Sie wurden mit drei Gummiwagen nach Soltau ins Lager gebracht. Auf der Rückfahrt sind sie Richtwege gefahren. Ein Pferd ist auf eine Miene getreten, wobei Fahrer wie auch Pferd bei der Explosion ums Leben kamen.
Am 8. Mai, am Tag der Kapitulation, feierten die englischen Soldaten in der Gemeinde Scheeßel ein Freuden-und Siegesfest.